Frage: 

Es ist unübersehbar, was die Menschheit gerade angesichts des neu aufkommenden Coronavirus erlebt. Es gibt zahlreiche Kranke und Tote, neue Verordnungen und Gesetze wurden erlassen, das öffentliche Leben ist nahezu zum Erliegen gekommen. Grenzen wurden geschlossen, der Verkehr wurde auf ein Minimum reduziert bzw. ist gänzlich zum Erliegen gekommen, Krankenhäuser sind mit Infizierten so überfüllt, dass die Kapazität der Intensivstationen überschritten wird. In manchen Städten reichen die Räume für die Vorbereitung der Leichname nicht mehr aus. Aus diesem Grund sahen sich manche Gelehrte und Fiqh-Gremien dazu veranlasst, Fatwas für diese Notlage zu veröffentlichen. So wurden gemeinschaftliche Gottesdienste einschließlich des Freitagsgebets ausgesetzt, um Menschenleben zu schützen. In dieser Notlage mit zahlreichen Toten sowie der gefährlichen Infektionsgefahr dieses Virus können Muslime mit ihre Toten und Begräbnissen nicht in der besten Art und Weise verfahren, wie es für sie sonst üblich ist. 

Wie also haben Muslime mit ihren Toten bezüglich der Totenwaschung, dem Leichentuch, Gebet und Begräbnis umzugehen?

Antwort:

Eine Fatwa ist bekanntermaßen von Zeit, Ort, Umständen und Kontexten abhängig. In unserer islamischen Normenlehre hat sich eine Reihe von Grundsätzen etabliert, welche in Ausnahme- und Notsituationen Anwendung finden. Zu diesen gehört: „Not erlaubt Verbotenes“, „Mühsal bringt Erleichterung“ sowie „Verpflichtung nur mit Machbarem“. All diese Grundsätze und solche, die vergleichbar mit ihnen sind, sowie ihre Einzelbestimmungen wurden durch vollständige Induktion der Offenbarungstexte gewonnen und fundiert. Hierzu gehört unter anderem folgende Rede Allahs: „Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag.“ (al-Baqara/die Kuh, 2:286), „Er hat in der Religion keine Bedrängnis auferlegt,“ (al-Ḥaǧǧ/die Pilgerfahrt, 22:78). Ebenso zählt dazu die Rede des Propheten, Allahs Segen und Frieden seien auf ihm: „Erleichtert, anstatt zu erschweren.“ Es gibt noch viele weitere Textbelege.

Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze und gleichzeitiger Betonung der notwendigen Einhaltung der Gesetze und Verordnungen der entsprechenden öffentlichen Stellen, fassen wir im Folgenden die Antwort auf die wichtigsten Fragen zusammen, welche mit dem Begräbnis und seinen religiösen Normen im Hinblick auf die jetzige kritische Situation zusammenhängen:

Erstens: Bezüglich der Totenwaschung bei Corona-Infizierten beschloss der European Council nach detaillierter Untersuchung und Konsultation von Ärzten, welche vor Ort in vom Virus stark betroffenen Gegenden sind, dass Tote, welche durch das Coronavirus infiziert wurden, in den Säcken und Särgen begraben werden sollen, in welchen sie das Krankenhaus verließen, ohne gewaschen oder bestrichen [tayammum] zu werden, selbst wenn dies gesetzlich erlaubt wäre. Das hat die folgenden Gründe:

  • Über die Waschung eines toten Muslim gibt es unter den Rechtsgelehrten Meinungsverschiedenheit. Die Mehrheit sieht in der Waschung eine Pflicht, während es unter Malikiten und Hanafiten eine Meinung gibt, die sie als bekräftigte Sunna [sunna muʾakkada] einstuft. Hierbei handelt es sich deshalb um eine zu berücksichtigende Meinungsverschiedenheit, da die Totenwaschung durch Handlung des Propheten, nicht durch seine Aussage überliefert wurde. Eine Handlung bedeutet per se nicht eine Verpflichtung, bzw. kann die Pflicht nicht aus einer bloßen Handlung geschlussfolgert werden. Ebenso ist sie im Kontext einer Anleitung, nicht der Verpflichtung überliefert worden. Die Pflicht der Totenwaschung bleibt weiterhin die vorzuziehende Meinung, sie ist jedoch nur unter normalen Umständen möglich. In Ausnahmesituationen, wie sie in Zeiten von Seuchen und Epidemien zutreffen, wird die Unterlassung einer Waschung und der Bestreichung zulässig.
  • In medizinischen Kreisen ist bekannt, dass die Totenwaschung bzw. die Bestreichung trotz Anwendung von Vorsichtsmaßnahmen die Infektionsgefahr für den Totenwäscher nicht ausschließt. Insbesondere gilt das, da die Umsetzung der Vorsichtsmaßnahmen für den Totenwäscher Erfahrung und Training erforderlich machen, welche aktuell weder vorliegen noch adäquat geleistet werden können. Wenn das medizinische Personal trotz der Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit den Präventionsmaßnahmen der Infektion ausgesetzt ist, wie ist dann wohl die Situation eines Totenwäscher zu bewerten, der nicht über solch eine Erfahrung verfügt und direkten Körperkontakt zum Toten hat?
  • Aus den islamrechtlichen Normen und Texten lässt sich schlussfolgern, dass in der Güterabwägung der Schutz eines gesunden Menschenlebens einer Sunna oder Pflicht in Bezug auf einen Toten vorzuziehen ist. In den religiösen Normen reicht die starke Vermutung [ġalabat ẓann] aus, dass sich der Totenwäscher mit der Krankheit ansteckt und er dritte anstecken kann. Der European Council weist darauf hin, dass ein durch das genannte Virus Verstorbener keine Verminderung seines Lohnes erfährt, wenn er auf die beschriebene Weise bestattet wird. Die Pflicht der Muslime und seiner Angehörigen ist durch diese erfüllt worden. Die islamrechtlichen Texte machen deutlich, dass er bei Allah den Rang eines Märtyrers erlangt. Der Prophet Muhammad, Allahs Segen und Frieden seien auf ihm, sagte: „Jeder Diener, welchen die Seuche erfasst und so geduldig an seinem Ort verweilt, wohlwissend, dass ihn nichts anderes treffen wird als das, was Allah für ihn bestimmte, erhält den Lohn eines Märtyrers.“ (Überliefert von al-Buḫārī).

Zweitens: Das Totengebet ist bei der Mehrheit der Rechtsgelehrten eine Kollektivpflicht (farḍ kifāya). Wenn es also einige verrichten, entfällt es für die übrigen Rechtsmündigen. Es genügt, dass für den Toten jene beten, welchen dies gesetzlich erlaubt wird, auch wenn dies nur drei sind. Einige Gelehrte sind gar der Meinung, dass das Gebet durch Verrichten seitens eines Mannes entfällt, wie es die Meinung bei den Hanafiten, Schafiiten und Hanbaliten ist.

Es ist für die Muslime möglich, selbst einzeln ṣalāt al-ġāʾib (Totengebet aus der Ferne) zu verrichten, wenn die Teilnahme für sie schwierig ist. Für das Gebet unter solchen Umständen ist das erst recht der Fall.

Drittens: Was die Beisetzung betrifft, so ist der Grundsatz bei dieser, dass der Muslim an dem Ort begraben wird, in welcher er seinen Tod findet. Ebenso ist ein Grundsatz, dass ein Muslim in für Muslime vorgesehenen Friedhöfen beigesetzt wird. Wenn dies nicht möglich sein sollte, wird er dort begraben wo es möglich ist, sei dies auch ein nicht-muslimischer Friedhof. Schließlich legt Allah keiner Seele auf, was sie nicht zu leisten vermag. Es schadet einem Muslim hier nicht, in einem nicht-muslimischen Friedhof beigesetzt zu werden. Denn das, was ihm in seinem Jenseits nützt sind seine Wohltaten, nicht sein Begräbnisort. Allah sagt: „und daß es für den Menschen nichts anderes geben wird als das, worum er sich (selbst) bemüht,“ (an-Naǧm/der Stern, 53:39). So auch sagte der ehrenwerte Salman, möge Allah mit ihm zufrieden sein: „Der Boden macht niemanden selig.“ Überliefert von Mālik im Muwaṭṭaʾ.

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