Frage:

Ist in der Scharia etwas erwähnt, dass die Unversehrtheit des Körpers der Verrichtung der Gottesdienste vorzuziehen ist? Was ist der Beleg aus dem edlen Koran und der prophetischen Sunna für das Aussetzen der Gebete in den Moscheen unter diesen Umständen?

Antwort:

Die islamische Glaubenslehre betrachtet den Schutz des Menschenlebens vor jeglichem Schaden als ein sehr hohes Gut. Dieser hohe Rang ist im Islam tief verankert. Die Sorgfalt beim Schutz menschlichen Lebens erreicht hier solch einen Grad, dass der edle Koran es dem Muslim gestattet, im Falle von Zwang den Glauben zu verleugnen, um sich vor seiner Ermordung zu schützen. Allah sagt: „Wer Allah verleugnet, nachdem er den Glauben (angenommen) hatte – außer demjenigen, der gezwungen wird, während sein Herz im Glauben Ruhe gefunden hat“ (an-Naḥl/die Biene 16:106). Auch erlaubte er dem Kranken und dem Reisenden im Ramadan aus Rücksicht auf seinen Körper vor starker Überanstrengung oder Schaden das Fasten zu brechen. So sagt Allah: „Wer von euch jedoch krank ist oder sich auf einer Reise befindet, der soll eine (gleiche) Anzahl von anderen Tagen (fasten).“ (al-Baqara/die Kuh 2:184). Das, obwohl in diesen Fällen der Grundsatz und Vorzug unterlassen wird.  Erst recht ist es dann zulässig, die Gebete in den Moscheen auszusetzen, um Menschenleben vor einer Infektion durch das Coronavirus zu retten. Das Gebet wird in diesem Fall zuhause verrichtet. 

Bezüglich der Textbelege, die eine Unterlassung der Gottesdienste in den Moscheen unter diesen Umständen zulassen, sind zuerst die islamrechtlichen Regeln zu nennen, über die es Übereinstimmung unter den Gelehrten gibt. Zu diesen gehören: „Schaden gilt es zu beseitigen“, „Not erlaubt Verbotenes“ sowie „Die Anstrengung zieht Erleichterung heran“. Außerdem kann Folgendes als Textbeleg dienen:

Erstens: Al-Buḫārī und Muslim überlieferten übereinstimmend von Abū Huraira, dass er sagte: Der Prophet, Allahs Segen und Frieden seien auf ihm, sagte: „Kein Kranker darf an einem Gesunden vorbeigehen.“ Die Ärzte sind sich entschieden einig darin, dass Corona-Infizierte eine längere Inkubationszeit aufweisen, sodass ein Erkrankter jede ihm begegnende Person anstecken kann. Das wäre bei Moscheen der Fall beim Betreten und Verlassen, beim gedrängten Zusammenstehen in den Gebetsreihen sowie durch Niederwerfen von verschiedenen Betenden an derselben Stelle der Fall.

Zweitens: Al-Buḫārī und Muslim überlieferten übereinstimmend vonʿAbd ar-Raḥmān ibn ʿAuf, dass der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Frieden seien auf ihm, sagte: „Wenn ihr von ihr [der Seuche] in einer Gegend hört, dann betretet diese nicht. Und wenn sie eine Gegend erfasst und ihr euch in dieser befindet, so verlasst diese nicht.“ Wenn dies allgemein von Staaten, Regionen und Städten gefordert wird, so ist dies erst recht von kleineren Versammlungen wie Moscheen zu erwarten. Der Schutz aller schreibt die umfassende Schließung vor, insbesondere bei Vorhandensein von islamrechtlich gültigen Alternativen für das Freitags- und Gemeinschaftsgebet.

Drittens: Die Analogie zur Unterlassung des Freitagsgebets aufgrund von Regen, der die Menschen dazu bringt ihren Kopf zu bedecken. In den ṣaḥīḥ-Werken von al-Buḫārī und Muslim ist erwähnt, dass ʿAbdullāh ibn ʿAbbās seinem Gebetsrufer an einem regnerischen Tag sagte: „Wenn du rufen solltest: »Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist«, so ruf nicht: »Auf zum Gebet«, sondern ruf »Betet in euren Häusern«” Alsdann schien es so, als würden die Menschen dies missbilligen. Hierauf sagte Ibn ʿAbbās: „Wundert ihr euch etwa deswegen? Dies tat, wer besser als ich gewesen ist“ [womit er den Gesandten Allahs, Allahs Segen und Frieden seien auf ihm, meinte]. Zweifelsohne ist die Gefahr und das Leid, welches durch das Coronavirus ausgeht, größer als die Anstrengung im Gang zum Gebet bei Regen.

Viertens: Die islamischen Rechtsgelehrten stimmen darüber ein, dass es sich bei Angst um sich selbst oder der Angehörigen um gültige Hinderungsgründe handelt, welche die Unterlassung des Freitagsgebets oder des Gemeinschaftsgebets zulassen. Der Prophet Muhammad, Allahs Segen und Frieden seien auf ihm, sagte schließlich: „Wer den Gebetsrufer hören und durch keinen Hinderungsgrund aufgehalten werden sollte.“ Sie sagten: “Was wäre denn ein Hinderungsgrund?” Er antwortete: „Angst oder Krankheit.“ (Überliefert durch Abū Dāwūd und an-Nasāʾī). Da nun jeder, der verreist oder in Kontakt mit anderen Menschen tritt, Angst um sich und seine Angehörigen vor dem Virus hat, liegt ein legitimer Hinderungsgrund vor.